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Wie ich unsere neue Heimat fand

Eine Flüchtlingsgeschichte
von Zita Gernt

 

Der 8. Mai 1945 - der Tag der Kapitulation - war für uns besonders schlimm. Wir wohnten auf der böhmischen Seite des Riesengebirges, welche seit 1918 zur CSR gehörte. Für uns fing das Grauen an, denn an jedem Tag gab es Mord und Totschlag. Wir waren Freiwild, weil die Potsdamer Beschlüsse noch nicht in Kraft gesetzt waren. Zum Teil waren wir froh, als wir in Viehwagen verladen und abtransportiert wurden. Es begann jetzt eine Odyssee, die von Juni bis November 1945 dauerte, bis ich nach Elze kam. Von den Tschechen wurden wir bis Zittau gebracht, wo die Bahngleise bereits von Bomben gesprengt waren, dort wurden wir an Hitler “abgegeben”. Länger als 24 Stunden durften wir aber an keinem Ort bleiben. Zum Essen mussten wir uns etwas erbetteln, schlafen in irgendeiner Scheune oder einem Schuppen. Bis nach llsenburg haben wir - meine Mutter und ich mit meinen zwei kleinen Kindern - uns allein durchgeschlagen, dort war die Grenze zur englisch besetzte Zone. Als wir dann endlich im “Westen” und im Lager Goslar waren, gab es eine wunderbare Haferflocken - Milchsuppe - wir fühlten uns wie im Paradies! Aber der Weg dorthin war geprägt von ständiger Angst vor Übergriffen russischer Soldaten, von Hunger und Krankheiten. Die Namen der Orte, durch die wir zogen, stehen auch immer für eine eigene kleine Überlebensgeschichte, es waren u. a.: Schirgiswalde, Wilten, Otterndorf, Neustadt in Sachsen, Bischofswerda.

Die größte Wegstrecke mussten meine Mutter, Tochter Heidi im Kinderwagen, mein Sohn Diethard auf dem Arm oder oben auf dem Kinderwagen sitzend, zu Fuß zurücklegen. Genau kann ich mich noch an den Tag erinnern, an dem es in Strömen goss und wir uns auf einem Bauernhof unterstellten, entdeckten wir dort einen Topf mit gekochtem Schweinefutter, auf den wir uns sofort alle aus-gehungert stürzten. Als der Bauer mitbekam, dass wir sein Viehfutter aßen, wurden wir als “Pack” vom Hof gejagt. In einer anderen Ortschaft Otterndorf, hatte ein Bauer Mitleid mit uns und stellte uns - einer Gruppe von etwa 20 Personen - eine große Scheune zur Verfügung, in der wir uns aber nur nachts aufhalten durften, tagsüber mussten wir jedes mal “verschwinden”. Hier in Otterndorf trafen wir auch meinen Schwager Hugo und seine Familie, der nach seiner Entlassung als Soldat inzwischen Unterkunft für seine Familie und Arbeit auf einem Gut in Bösewig bei Wittenberg gefunden hatte.

Um eine Fahrkarte nach Hannover zu bekommen, fuhr ich nach Dresden zum Rat der Stadt. Das ganze Gebiet in und um die Stadt herum war von den Bombardierungen schwer beschädigt. Weil das Grundwasser vergiftet war, musste die Bevölkerung mit Wassertankwagen versorgt werden, von denen es natürlich viel zu wenig gab. So kam zum allgegenwärtigen Hunger nun auch noch Durst. Ich muss wohl sehr leidend aus-gesehen haben, als mich ein Bahn-bediensteter zu sich nach Hause nahm und dort Wasser zu trinken gab. Nachdem ich meine Fahrkarte bekommen hatte, fuhr ich zu meiner Familie zurück, um nach Hannover aufzubrechen. Züge fuhren nur unregelmäßig, oft benutzten wir Güterzüge, die aber auch nicht den direkten Weg nach Hannover hatten, sondern von Dresden über Chemnitz, Zwickau, Leipzig - hier bekamen wir die erste Lebensmittelzuteilung vom Roten Kreuz: etwas Brot, Marmelade und Milch für einen Tag, auch in Halle gab es eine solche Zuteilung - dann führte unser Weg weiter nach Halberstadt und Ilsenburg. Nachts versteckten wir uns in abgestellten Viehwagen um uns vor Vergewaltigungen russischer Soldaten zu schützen. Wir litten alle schreckliche Angst, mein Sohn Diethard wurde einmal “als niedlicher kleiner Junge” von den Russen einfach mitgenommen. Als ich ihn endlich wiederfand, fütterten die Soldaten ihn mit Schokolade, dennoch schrie und weinte er unaufhörlich.

In Ilsenburg war Endstation, Tausende warteten auf die Ausreise in den Westen. Auch viele ausgebombte Menschen aus dem Ruhrgebiet, die zwischenzeitlich in den östlichen Landesteilen untergebracht waren, warteten nun auf ihre Rückführung nach Westfalen. Auf Lastwagen wurden wir auf das Umland verteilt. In Cilly habe ich für 20 Pfennig die Stunde und einige Lebensmittel auf einem Gut gearbeitet. Durch im Krieg erhaltene Soldatenpost hatte ich die Adresse von Rump in Elze, und da man nach jedem Strohhalm greifen musste, habe ich Kontakt dorthin aufgenommen (mein Bruder schrieb sich damals mit Fräulein Rump). Weil ich die Menschen gar nicht kannte, bei denen wir in Zukunft leben wollten, ging ich eines Tages unerlaubt heimlich über die Grenze und fuhr nach Hannover und weiter nach Elze, um zu erkunden, ob wir in unserer Wahlheimat überhaupt willkommen waren. Zurück in Ilsenburg hörten wir, dass täglich 500 Westfalen über die Grenze geschleust wurden, wenn dann einmal weniger als die angegebene Zahl am Kontrollpunkt auf die Ausreise warteten, wurden auch schon mal Ostflüchtlinge berücksichtigt. Nach vielen Tagen vergeblichen Anstehens hatten wir endlich Glück. Den Passierschein meiner im Kinderwagen liegenden Tochter Heidelinde gab ich nach längerem Bitten einem Soldaten. Dieser stellte sich nun zu uns, so dass wir wie eine komplette Familie aussahen und niemand Verdacht schöpfte. Überglücklich kamen wir dann in der englisch besetzten Zone an und wurden erst einmal in das Auffanglager Goslar gebracht, was uns wie eine Erlösung erschien.

Eines Abends im November 1945 landete ich also mit Kinderwagen, einem kleinen Handwägelchen, zwei Kindern und meiner Mutter auf dem Bahnhof in Bennemühlen. Diethard war schwer erkrankt an einer Nervenentzündung, Heidelinde beinahe an Typhus. In Sachsen waren damals schon sehr viele an Typhus gestorben. Ich glaube, durch mein Ziel, mich in den Westen durchzuschlagen, habe ich meine Kinder gerettet, denn später erfuhr ich, dass viele meiner Schulfreundinnen mit ihren Kindern an Typhus gestorben waren. So kamen wir also nach Elze zu Rumps. Wir bekamen dort ein möbliertes Zimmer, das allerdings an Hannoveraner vermietet war, wie wir nach einiger Zeit erfuhren. Das Geschäft - heute Messe - war ein Lebensmittelgeschäft, gepachtet von Frau Leuschner-Gottlieb. Sie war es auch, die uns viel geholfen hat. Im Hinterhof wohnte Familie Tiedke, sie half uns ebenfalls mit Spinnstoffresten, damit ich für die Kinder etwas zum Anziehen nähen konnte. Im Zimmer war ein kleines Öfchen, das Rohr ging zum Fenster hinaus, kam der Wind aus der Richtung des Fensters, konnte eben nicht gekocht werden. Für den Winter kaufte ich einen großen Topf mit Steckrüben als Vorrat von Bauer Hanebuth. Das tägliche Essen bestand meistens aus Wassersuppe, in der die Kartoffeln schwammen wie Fleisch im Eintopf.

Unsere Familie wurde auch größer, Vater kam nach Elze, als er während seiner Krankheit aus dem tschechischen Internierungslager entlassen wurde, mein Bruder Victor kam aus englischer Gefangenschaft. So waren wir vier Erwachsene und zwei kranke Kinder in nur einem Zimmer. In einem Bett schliefen Vater und Mutter, für die Kinder gab es ein schmales Eisenbett, mein Bruder und ich wechselten uns auf einem alten Sofa mit dem Schlafen ab. Dann fing ich langsam an, meinen Mann über das Rote Kreuz zu suchen, konnte aber zunächst nichts erfahren. Ein Schulfreund von Zuhause hat mich dann auf die Spur gebracht: Er hatte ihn in Duisburg-Ruhrort getroffen, so ist er schließlich auch zu uns gestoßen. Vater und Mutter mit Bruder bekamen dann eine kleine Wohnung bei Timme (heute Anita Bombeck - Thom). Ein normales Familienleben fing eigentlich erst 1946 kurz vor Weihnachten an, als uns bei Sprengel - Hemme eine Wohnung zum Tausch angeboten wurde, die Schwestern Bockelmann (Verwandte von Rump) zogen zu Rump und wir zu Sprengels. Dort hatten wir dann eine Stube, eine Kammer und Küche, wenn auch vorerst nur ein Bett, einen Schrank, ein altes Sofa und einen Tisch in der Stube, aber wir waren glücklich, dort zu sein. Bei Sprengels habe ich dann in der Landwirtschaft geholfen, ich bekam Milch und Eier für die Kinder und auch etwas vom Schlachten, was für uns ja völlig neu war. Mein Mann wurde bei den Stadtwerken Hannover, am Wasserwerk in Elze als Maurer eingestellt.

Von Oma Sprengel wurden wir dann richtig in die Elzer Gemeinde integriert. Bei allen privaten Zusammenkommen, Geburtstagen und Festen, waren wir mit dabei, das gab uns neuen Lebensmut. Mein Bruno kam zum Feuerwehr-Musikzug, spielte dort Klarinette, später Saxophon. Es war damals eine kleine Truppe, aber alle hielten wie Pech und Schwefel zusammen. Es waren Bombeck Willi, Hebecker Willi, Karl und Richard, Meine Hermann und Balke Fritz. Willi Koch kam später dazu. Zuerst dirigierte Rump Heinrich, wir haben manchen lustigen Abend zusammen verbracht. Später wurde unter der Leitung von Wilhelm Kreysel der Gesangverein gegründet. Da waren wir auch sofort dabei. Die Musik und das Singen waren ja schon von frühester Jugend an unser Hobby.

Nach der Währungsreform kauften wir uns das erste Möbelstück: einen Küchenschrank auf Wechsel, so ging es dann langsam bergauf. Von der Stadt Hannover konnten wir später ein Baugrundstück kaufen. Mein Bruder Erhard - er war inzwischen aus russischer Gefangenschaft entlassen worden - hat uns das Geld zum Kauf vorgestreckt, einen Kredit hätten wir nicht bekommen. 1956/57 wurde dann gebaut, seit dieser Zeit gab es für uns nur Arbeit, alles andere musste zurückstehen. Es hat uns aber beiden viel Spaß gemacht etwas zu schaffen. 1964 wurde uns ein drittes Kind geboren, Matthias ist ein waschechter Elzer geworden.

Wir haben uns so eine zweite Heimat und unseren Kindern ein neues Zuhause geschaffen. Die schönste, wenn auch entbehrungsreichste Zeit, haben wir bei Sprengels und deren Nachbarn erlebt. Wir gehörten da einfach dazu: Bütehorn, Leseberg, Brüggemann, Bombeck, Meine, Leseberg, auch später zog es mich immer wieder in das ,,alte Dorf” zurück.

In meiner Erinnerung - mein Bruno ist inzwischen leider verstorben - steht natürlich das Riesengebirge mit unserem Heimatlied ”Blaue Berge, grüne Täler...” immer noch im Vordergrund.