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Eine Flüchtlingsgeschichte

erzählt von Lydia Weißmann (+)

 

Unsere Familie lebte in Polen, Lörchenort bei Sichelberg. 1896 war meine Mutter als dreijährige mit ihren Eltern von Amerika nach Polen eingewandert und heiratete als junges Mädchen auf unseren 40 ha großen Hof ein. Dort verbrachte ich neben zwei Brüdern und einer Schwester, die heute in München lebt, eine glückliche Kindheit, die nur durch den frühen Tod meines Vaters im Jahre 1931 getrübt wurde.

Der Krieg beeinflusste unser Leben zunächst nur wenig. Durch unser gutes Verhältnis zu unserem polnischen Knecht und dem auch polnischen Nachbarbauern ging das arbeitsreiche Bauernleben ganz normal weiter. Dass Nachbarschaftshilfe und Vertrauen nicht vor Nationalitäten zurückstehen mussten, sollte sich später noch auszahlen.

Als Anfang Januar 1945 die ersten Russen bei uns eintrafen, warteten wir mit gemischten Gefühlen auf unsere neuen “Herren”. Die ersten Soldaten behandelten uns allerdings gut und wollten nur etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen. Wir mussten unser Haus für russische Offiziere räumen, kochten für sie und schliefen selbst in der Scheune. Einige Tage später zogen sie weiter nach Westen und die zweite Frontlinie näherte sich unserem Dorf mit polnischen Partisanen. Diesen war schon der schreckliche Ruf des Hasses vorausgeeilt und unser Nachbar, mit dem wir immer gut zusammengearbeitet hatten, warnte uns und versteckte uns in seiner Scheune drei Tage und drei Nächte lang im Stroh. Es gelang uns auch noch, einige Wertgegenstände aus unserem Haus beim Nachbarn zu verstecken. In dieser Zeit herrschte totale Gesetzlosigkeit, viele Deutsche, aber auch Polen wurden ermordet. Als die Ordnung wiederhergestellt war, krochen wir aus unserem Versteck hervor. Bald erschien die polnische Miliz und brachte uns mit vielen anderen Flüchtlingen zu Fuß nach Sichelberg. Wenn jemand schrie, zusammenbrach oder wenn geschossen wurde, durften wir uns nicht umdrehen, weil wir sofort von unseren Bewachern getreten und geschlagen wurden. Unser polnischer Knecht hatte schon den Hof übernommen als wir das Internierungslager erreichten.

Das gute Verhältnis zu unseren polnischen Mitmenschen führte schließlich dazu, dass ich von einem Bewacher erkannt wurde und wenig später bei dessen Eltern in Sudrau auf einem Bauernhof arbeiten durfte. Dieser rettete zum zweiten Mal mein Leben. Weil ich noch ein junges Mädchen war, wäre ich sonst nach Russland abtransportiert worden. Auch meine Mutter wurde auf ähnliche Art gerettet, sie durfte beim Kommandanten der Miliz privat arbeiten. Die Männer traf ein ungleich schwereres Los, mein jüngerer Bruder wurde vom Lager Sichelberg nach Russland abtransportiert und starb dort noch im selben Jahr an Typhus, während mein älterer Bruder Jahrgang 1921 seit 1943 in Russland vermisst wurde.

In Sudrau arbeitete ich zwanzig Monate und knüpfte hier Beziehungen zu einer Deutschen, deren polnischer Bauer einen Bruder in Swinemünde hatte. Die un-mittelbare Nähe zur Grenze ließ mir die Ostseestadt als erstes Fluchtziel günstig erscheinen. So brach ich im August 1946 mit einer polnischen Geburtsurkunde auf, die ich von einem einheimischen Mädchen aus Mitleid geschenkt bekam, um meine deutsche Identität zu vertuschen. Zunächst ging ich 5 km zu meiner Mutter, um mich von ihr zu verabschieden. Mit viel Abschiedstränen und der Angst vor einer ungewissen Zukunft ging ich danach zu meinem polnischen Nachbarn, um ihn gegen Überlassung der Wertgegenstände, um Geld für die Fahrkarte nach Swinemünde zu bitten. Der Nachbar hatte Verständnis für meine Fluchtpläne und half mir auch jetzt wieder. An unserem Bahnhof konnte ich die Fahrkarte jedoch nicht lösen, weil mich jedermann kannte. Darum lief ich, weil mir der Weg sicherer erschien als die Landstraße, früh um fünf barfuß auf den Schienen zum nächsten Bahnhof. Unterwegs betete ich zu Jesus: “So nimm denn meine Hände, Jesu geh voran”. Das Gebet nahm mir die lähmende Angst vor Vergewaltigung und Überfällen. Wohlbehalten stieg ich in den Zug und fuhr immer noch ängstlich aber glücklich nach Swinemünde.

Etwa ein Jahr lang arbeitete ich hier in einem Lebensmittelgeschäft als “Polin”. Eine deutsche Haushälterin war bereits als “freie” Angestellte dort tätig. Alles war hier irgendwie schon freier als im Landesinnern. Als ich der Deutschen meine wahre Identität und meine Fluchtpläne anvertraute, erzählte sie, dass ihr Mann mit einem Frachtschiff zwischen Swinemünde und Wolgast hin und her fährt und schon vielen Flüchtlingen geholfen habe. Mit meinen Sloty konnte ich für die Reise bezahlen. Als der Tag gekommen war, deckte die Haushälterin meine Abwesenheit und im Hafen gingen noch zwei Männer und drei Frauen mit mir zusammen auf das Schiff. Bevor die russische Kontrolle den Frachter inspizierte, wurden wir im Laderaum versteckt. Die Mannschaft deckte die Luke mit einem Teppich zu und setzte sich selbst auf Kisten. Nachdem wir außer Sichtweite des Hafens waren, durften wir wieder ans Licht kriechen, mussten aber vor dem Einlaufen in Wolgast noch einmal verschwinden.

Nun betraten wir zwar deutschen Boden, wussten aber doch gleichzeitig, dass wir noch nicht in der Freiheit angekommen waren. Geographische Vorstellungen von Deutschland hatte ich überhaupt nicht, so wusste ich noch nicht, dass ich noch eine Grenze vom russischen zum britischen Sektor passieren musste. Der neue Wohnort meines Onkels Adolf Ristau bei Bauer Wilhelm Sprengel in Elze Bennemühlen war mein Reiseziel. Mein Fluchthelfer brachte uns zum Landratsamt in Wolgast. Dort bat ich um eine Genehmigung für eine Fahrkarte und löste dann eine Fahrt nach Bennemühlen.

Mit dem Zug konnte ich zunächst nur bis Berlin fahren, musste dort dann aber zwei Tage lang beim Roten Kreuz bleiben, weil die weiterführenden Züge alle mit Kriegsgefangenen überfüllt waren. Dann fuhr ich weiter nach Halle und übernachtete in einem großen Raum ohne Bettzeug, nur mit Stoffresten zugedeckt, die ich in meinem Koffer hatte.

Bei der nächsten Fahrt Richtung Grenze stieg ich an der letzten Station aus und knüpfte Kontakt zu Schwarzhändlern, die Alkohol über die Grenze schmuggelten. Weil ich so verzweifelt war, hatten sie Mitleid mit mir und wollten mich nachts mit über die damals noch grüne Grenze nehmen, dabei liefen sie so schnell durch den Wald, dass ich ihnen mit meinem Holzkoffer nicht folgen konnte. Deshalb schimpften sie und wollten mich zurücklassen, schließlich hatten sie aber doch Mitleid und wir kamen glücklich im “Westen” an. In Braunschweig bezahlte ich dann meine Fluchthelfer und fuhr allein mit dem Zug zunächst nach Burgdorf, dann nach Hannover und schließlich nach Bennemühlen.

Nach fast acht Tagen war ich am Ziel, nun musste ich nur noch Familie Sprengel finden. Der Bauer Heinrich Fesche nahm mich und meinen Holzkoffer mit auf seinem Pferdefuhrwerk ins Dorf. Meine Enttäuschung stand mir sicher im Gesicht geschrieben, als ich erkennen musste, dass Ristaus hier noch ärmlicher lebten als ich in Polen, denn ich hatte ja immerhin dort Geld verdient. Ihre Küche war in der Futterküche des Schweinestalls untergebracht, dort schliefen auch die beiden Söhne, ich schlief mit Adolf und Hulda zusammen in Sprengels Wohnhaus. Unbedingt musste ich Arbeit finden, um wieder normal leben zu können. Frieda Sprengel vermittelte mich zu Kaufmann Müller als Hausangestellte in deren Lebensmittelladen. Sina Müller kam jedoch zuerst zu Sprengels um die “Polin” von oben bis unten zu begutachten. Jedenfalls wurde ich angenommen und konnte sofort zu Müllers ziehen und führte dort zwei Jahre lang den Haushalt. Jetzt lernte ich auch meinen Mann Alwin kennen, dessen litauische Flüchtlingsfamilie Ülschen Hof (Jennert) gepachtet hatte.

Mutter kam erst vier Jahre später zu uns über Vermittlung des Roten Kreuzes und das Flüchtlingslager Friedland. Manchmal wache ich nachts von Alpträumen geplagt auf, dann sehe ich mich wieder nachts über die Schienen laufen und denke immer wieder, dass das Leben an einem seidenen Faden hing, und viele so wie ich ihr Leben für die Freiheit aufs Spiel setzten. Die Angst in mir war es denn auch, die ein frühzeitiges Wiedersehen mit meiner polnischen Heimat immer wieder verzögerte. 1988 fuhr ich mit meinem Mann und Verwandten doch schließlich nach Polen. Mit gemischten Gefühlen bogen wir von der Hauptstraße zu unserem Dorf ab. Die Angst vor Begegnungen mit meinen früheren Mitmenschen wich beim Anblick des Dorfes und meines Bauernhofes. Als Erstes begegnete ich meinem Nachbarn und Lebensretter, nun flossen viele Freudentränen und wir feierten ein überschwängliches Wiedersehensfest. Auch bei dem neuen Besitzer unseres Hofes wich nach kurzer Zeit das Misstrauen, als ich ihm erklärte, dass ich keine Besitzansprüche mehr erheben würde.